HeiligsBlättle 1/24
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Ulrich Skobowsky

Warum Wort-Gottes-Feiern?

Liturgie (den Glauben feiern) ist neben der Diakonie (den Glauben leben) und der Martyrie (den Glauben bezeugen) eine der drei Grundvollzüge von Gemeinde. Fällt eine dieser Säulen weg oder kommt sie zu kurz, gerät bildlich gesprochen das ganze System ins Kippen. Gemeinde riskiert ihre Identität. Auch wenn alle drei für sich ein Geben und Nehmen sind, in denen Gottes Geist wirkt, so ist es doch ganz besonders der Gottesdienst, in dem Gott zuallererst uns dient. In dem Jesus selber da ist und handelt und uns mit Wort und Zeichen in Herz und Verstand, in Fleisch und Blut übergeht, damit wir neue Kraft schöpfen – für uns und unseren Dienst an den Menschen. Liturgie ist also Gottes Dienst an uns und Grunddienst der Gemeinde – unabhängig davon, ob ein geweihter Priester dieser Liturgie vorsteht! Die zentrale Liturgie der kirchlichen Tradition ist die Eucharistie. Vor allem am Herrentag, dem Sonntag, taucht die Gemeinde ein in das letzte Abendmahl Jesu mit den Seinen, in das Geheimnis seines Lebens und Sterbens und Auferstehens. Hier empfängt die Gemeinschaft der Glaubenden Heilung und Sinn. Hier verbindet sich der „Leib“ mit seinem Haupt. Aus dem Auftrag an die Jünger(innen), dieses Mahl immer neu zu feiern, hat sich das besondere Priesteramt entwickelt, das dafür Sorge und Verantwortung zu tragen hat. Weil aber unter den viel später entstandenen, restriktiven Zugangsbedingungen zu diesem Amt in unseren Breitengraden kaum noch neue Priester geweiht werden können, steht die Eucharistie auf dem Spiel. Spätestens hier zeigt sich die Notwendigkeit in der Gemeinde, den Grunddienst Liturgie neu zu bedenken und als ureigene Aufgabe aller Getauften zu beherzigen. Wenn es stimmt, dass wir in der Taufe mit Gottes Geist zu Priestern, Königen und Propheten gesalbt worden sind und damit zu jener dreifachen Verantwortung beauftragt wurden, die sich in den Grunddiensten widerspiegelt, dann heißt das für die Liturgie: die Glieder der Gemeinde haben einen klaren priesterlichen Auftrag und eine unauslöschliche priesterliche Würde. Es ist ein Geschenk, dass sich Menschen finden, die sich dieser Berufung stellen und bereit sind, der sonntäglichen Liturgie vorzustehen, damit Gemeinde zusammenbleiben kann. Ausgestattet mit dem Vertrauen des Kirchengemeinderates und der Beauftragung durch den Bischof sowie gut ausgebildet durch Kurse unserer Diözese tun sie ihren wertvollen Dienst – mit ihrem Glauben und Verstand und gründlicher persönlicher Vorbereitung. Als Form für diesen Gottesdienst ohne geweihten Priester hat sich die Wort-Gottes-Feier herausgebildet, die sich inhaltlich und vom Ablauf her an die Eucharistie anlehnt. Die Mahlfeier findet in einer reduzierten Form statt: das heilige Brot dafür wird aus dem Tabernakel entnommen und bildet so – auch ganz sinnlich – die Brücke zu den Eucharistiefeiern der Gemeinde: Es ist Christus, von dem wir leben!

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Barbara Wolf

Ein persönliches Glaubenszeugnis

Als ich meine erste Wortgottesfeier in St. Michael vor ca. 8 Jahren geleitet habe, war ich froh über das lange Gewand, das meine zitternden Knie verdeckt hat – so tief steckte gegen alles bessere Wissen in mir durch meine katholische Sozialisation, dass Frauen „da oben“ im Chorraum nichts verloren haben. Diesen inneren und äußeren Raum habe ich mir zusammen mit dem wunderbaren Team der Wortgottesfeierleiterinnen und -leiter mittler-
weile erobert. Und ich erlebe immer wieder die besondere Qualität dieser Gottesdienste, die für mich kein Ersatz für die Eucharistiefeiern am Sonntagmorgen sind, sondern etwas Eigenes, Besonderes darstellen: Die Predigten und Gebete sind in aller Regel sehr sorgfältig vorbereitet, authentisch und enthalten einen
roten Faden. Das lässt sich ehrlich gesagt nicht von allen Eucharistiefeiern sagen. Die Wortgottesfeierleiterinnen und -leiter legen in ihren
Predigten ein persönliches Glaubenszeugnis ab, in dem ganz unterschiedliche Lebenswirklichkeiten durch verschiedene Berufe, familiäre
Situationen und Lebens- und Glaubenserfahrungen erkennbar werden. Das erlebe ich als unglaublich bereichernd. In der Kommunionfeier, die bei uns immer als Teil der Wortgottesfeier im Kreis um den Altar in sehr feierlicher und würdiger Weise stattfindet, erlebe ich mehr Gemeinschaft – eben Communio – als sonst in den Gottesdiensten. Von daher bin ich froh, dass wir im Wechsel beides sonntagvormittags erleben dürfen: Eucharistiefeiern und Wortgottesfeiern!

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Beate Jakob

Gemeinschaft erfahren

Wortgottesfeiern in St. Johannes? – Nein!, war die Antwort bis vor drei Jahren. Während diese Feiern in den anderen Tübinger Gemeinden schon seit langem fest verankert waren, wurden bei uns selbstverständlich jeden Sonntag drei Eucharistiefeiern gehalten. Schon kurz nach seiner Investitur stellte Pfarrer Skobowsky diese Sonderstellung von St. Johannes in Frage: „Eine Gemeinde, die nur Gottesdienste feiern kann, wenn ein Priester da ist, hat keinen Bestand.“ Obwohl mir dies einleuchtete, konnte ich mir zunächst nicht vorstellen, selbst einen Wortgottesdienst zu leiten – im Altarraum mit der großen Distanz zur Gemeinde und mit der Verantwortung für eine würdige Gestaltung der Feier. So war es ein „Sprung ins kalte Wasser“, als ich, gemeinsam mit Diakon Ludwig Leins, im Juni 2022 zum ersten Mal bei einer Wortgottesfeier mitwirkte. Seither wachse ich in diese Aufgabe hinein. Dabei hilft mir, die Feier als Zweierteam vorzubereiten und zu gestalten. Zunehmend wird mir klar, dass wir im Grunde nichts anderes „machen“ müssen als dem Wort Gottes und Christi Präsenz im Brot Raum zu geben. So entsteht (auch) in einer Wortgottesfeier eine Gemeinschaft, die uns alle trägt und stärkt.

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Dagmar Hauser

Was ist für mich besonders an Wortgottesfeiern?

Ich glaube – auch an ein Erwachsen in und aus den Strukturen der Amtskirche. Deshalb konnte ich die Anfrage, ob ich als Wortgottesfeier-Leiterin in meiner Heimat St. Petrus aktiv werden wolle, nicht ablehnen. Jeder Mensch ist zum Priesteramt berufen. Das ist urchristlich. Wortgottesfeiern halten, das bedeutet für mich aktive Auseinandersetzung mit mir selbst und mit meinen christlichen Wurzeln. Ziel ist eine Übersetzung der Bibeltexte in eine heute verständliche Sprache und dadurch ein Verankern und Erden altehrwürdiger, gleichsam hochaktueller Werte in meinem Alltag, in unseren Alltag. Das braucht viel Zeit, aber ich bin jedes Mal neu berührt, wieviel Spiritualität offenbar doch in mir steckt – in jedem Menschen! –, wenn ich mich einlasse, wieviel sich mir erschließt, ohne Anspruch auf Vollständigkeit. Die kleine Revolutionsfahne, die einer Frau hinter’m Altar aus der Tasche guckt… schadet dabei nicht. Ich erlebe die Gottesdienstlandschaft lebendig in der Vielfalt derer, die sie in der jeweils eigenen Art und mit ihren persönlichen Lebenserfahrungen halten.

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Davide Campagnari

„Was für eine Entwicklung!“

„Wort-Gottes-Feiern“ (WGF) waren für einen gebürtigen Italiener, in dessen Heimatgemeinde immer noch fünf Priester aktiv sind, eine merkwürdige Notwendigkeit. Ich muss gestehen, dass ich die WGF anfangs vermieden habe. Als ich dann jedoch einmal als Lektor und Kommunionhelfer bei einer WGF eingeteilt wurde, habe ich gedacht: Das kann was werden! Nun beginnt für mich das zehnte Jahr als WGF-Leiter. Was für eine Entwicklung! Früher saß ich Stunden an der Vorbereitung, dann kam mit der Zeit die Übung. Inzwischen entstehen zwei Drittel der WGF am Samstagabend und das letzte Drittel beim Frühstück am Sonntag. Fast Routine, könnte man meinen; und doch ist es jedes Mal ein Erlebnis, mich mit der Heiligen Schrift auseinanderzusetzen, sperrige Passagen zu durchleuchten und bereits vorhandene Predigten etwas persönlicher zu gestalten. Ich habe dabei wesentlich mehr über meinen eigenen Glauben gelernt als in allen Jahren davor. Die Erfahrung kann ich jedem und jeder empfehlen!

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Thomas Fliethmann

Andere Stimmen kommen zu Wort im Gottesdienst

– das ist größte Plus von Wort-Gottes-feiern. Wenn die Leiter:innen die Texte des Sonntags mit ihrem eigenen Blick auf die Welt,
mit der Wirklichkeit ihres Berufs und den Fragen ihres eigenen Glaubens in Verbindung bringen, dann kann das Wort Gottes auch zu den Hörer:innen neu sprechen. Das ist herausfordernd wie alles, bei dem die eigene Person ins Spiel kommt. Aber es lohnt sich, denn die intensive Vorbereitung und die größere Freiheit in der Formulierung von Gebeten ändern den Ton: Er wird persönlicher, verbindlicher, weniger „kirchen-typisch“.  Für mich ist die Vorbereitung von Wort-Gottesfeiern immer die Herausforderung, Phrasen zu vermeiden, hinter denen ich mich verstecke. „Funktionieren“ die Sätze, die ich formuliere nur, solange ich am Ambo stehe und mir keiner widerspricht, oder kann ich sie auch nach dem Gottesdienst auf dem Kirchplatz noch vertreten? Und natürlich stehe ich bei jeder Wort-Gottesfeier – das gilt aber für jeden anderen Gottesdienst auch – vor der Frage: Wie wird der Gottesdienst zu einer wirklichen Feier, bei der die Anwesenden durchatmen und spirituell „auftanken“ können?

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Horst Gorbauch

Wortgottesfeiern

Ich bin gerne bei Wortgottesfeiern dabei. Schön finde ich, dass wir zwei Leiter/innen sind. Man ist nicht allein und für alles verantwortlich; bei Unsicherheiten kann man einander helfen. – Auch die Besucher nehmen, soweit ich das beurteilen kann, gern teil.

Man kann Wortgottesfeiern kritisch sehen: Sie sind nur ein Notbehelf, um über den Pfarrer-mangel hinwegzutäuschen. Dessen Grund: Beschränkung der Zugänge zum Priesteramt (nur Männer, Zölibat). Dagegen ist auch eine positive Sichtweise möglich: Wortgottesfeiern sind die Vor-Ankündigung einer neuen Form des Sonntagsgottesdienstes: ohne hierarchisch übergeordnete Kleriker, von „Laien“ für „Laien“. Bei aller Sympathie für dieses Modell gibt es da auch eine Gefahr: In Exegese, Kirchengeschichte usw. unerfahrene, dafür umso mehr charismatisch begeisterte Leiter/innen verkünden sektiererische Gedanken. – Bei uns in St. Johannes ist diese Gefahr kaum real: Viele Wortgottesfeierleiter/innen haben eine theologische Ausbildung.

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Anette Sidhu-Ingenhoff

Eine gute Stunde in Gottes Gegenwart

Seit sieben Jahren darf ich drei- bis viermal im Jahr in St. Paulus die Wort-Gottes-Feier gestalten. Anfangs fand ich es oft schwierig, eine passende Predigtvorlage zu finden, eine, die ich für mich selbst gut aus- oder umgestalten kann. Inzwischen komme ich gut zurecht. Überraschend finde ich, wie viele kreative kleine Elemente in diesen Gottesdiensten Platz finden können und wie schön es ist, auch im kleinen Kreis gemeinsam Gottesdienst zu feiern. Am schönsten finde ich die Stille, die Anbetung vor der Kommunionausteilung. Die Stille tut gut. Und ich freue mich, wenn wir mal mehrheitlich Frauen sind, die die Liturgie gestalten und Gemeindemitglieder dann sagen: heute war die Kirche weiblich! Das gemeinsame Singen und Beten ist wohltuend und motiviert: wir verbringen eine gute Stunde zusammen – in Gottes Gegenwart. Das gibt Halt, Ruhe, Hoffnung. Die Wort-Gottes-Feier zu leiten, kann ich unbedingt weiterempfehlen. Man wächst an der Aufgabe.

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Thomas Pfeiffer

Mein Statement

Bisher hat mich jede Wort-Gottesfeier, die ich leiten oder besuchen durfte, bereichert und begeistert. Es gibt als Leiter überwältigend viele Möglichkeiten, die Feier individuell auszuschmücken. Musikalische Elemente, Mitwirkende, ein aktuelles Thema, Installationen, usw. Als junger Familienvater habe ich aber zwei wesentliche Hürden, die diese Möglichkeiten in der Umsetzung leider stark limitieren. Zum einen die Besucher. Ich möchte ja versuchen etwas rüber zu bringen, was mitzugeben, den Erwartungen gerecht zu werden und möglichst viele zu erreichen. Diese Herausforderung wird jedoch nochmals erhöht, wenn der Altersdurchschnitt (gefühlt) 30 Jahre höher ist, als ich selbst alt bin. Was direkt zur zweiten Hürde führt: der Vorbereitungszeit. Diese braucht es reichlich, um Ideen umzusetzen, sich abzusprechen, eine Ansprache zu schreiben, passende Gebete und Lieder zu finden. Zeit, die dann der Familie, im Beruf oder beim Nachtschlaf fehlt. Ich freue mich auf weitere begeisternde Feiern, egal ob als Leiter oder Besucher.

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Dr. Reinhard Pfau

Ein Sonntagsgottesdienst

1977 hat Bischof Moser ein erstes Hirtenwort zu den Sonntagsgottesdiensten ohne Priester geschrieben. Ich habe damals am Entwurf mitgearbeitet. Seither habe ich als Pastoralreferent viele solche Gottesdienste geleitet – durchaus gern. Trotzdem – und in diesem Punkt bin ich konservativ: Es bleibt für mich eine Notlösung. Eine unbedingt notwendige Notlösung, weil nur so noch in den Gemeinden regelmäßig Sonntagsgottesdienst gefeiert werden kann. Aber – wie gesagt konservativ katholisch – der ordentliche Sonntaggottesdienst ist für mich die Feier der Eucharistie. Dass unsere Kirche das durch ihre Weiheregeln verhindert, ist ein Skandal.

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Anne Lohmüller

Wie vor 2.000 Jahren

Ehrlich gesagt – bis zu meiner Ausbildung als Wortgottesdienstleiterin im Herbst 2023 habe ich mir keine großen Gedanken zu dieser Gottesdienstform gemacht. Die gibt es halt seit einigen Jahren in St. Pankratius – Punkt. Aus. Und da durch mein Ehrenamt als „Ministrantenbeauftragte“ der Schwerpunkt stets auf der sonntäglichen Eucharistiefeier und den Hochfesten lag, hatte ich diese so tolle Gottesdienstform nicht wirklich im Blick. Doch das große Corona-Projekt „Kirche mal anders“, bei dem wir im Frühjahr 2021 in St. Pankratius notgedrungen ganz andere Gottesdienstformen ausprobiert haben (per Youtube-livestream, als Spaziergang, als „Nacht der Kirche“ usw.) hat mir ein Stück weit Augen, Ohren und Herz geöffnet, denn wir haben auf einmal ganz andere Menschen erreicht. Und sind nicht die Wortgottesdienstfeiern letztlich die Antwort darauf, wie wir unsere Kirche künftig haben wollen? Wir treffen uns im Gottesdienst, um unseren Glauben zu teilen – im Dialog und auf Augenhöhe, so wie es vor 2.000 Jahren schon die ersten Christinnen und Christen getan haben? Und ja, es wird nicht gerade einfach werden, Menschen, die sich bereits ganz von der Kirche abgewandt haben oder auch nur vom sonntäglichen Gottesdienstbesuch, wieder in die Kirche zu locken. Doch ein Wortgottesdienst, der sich sichtbar von der Eucharistiefeier unterscheidet, kann hier neue Anreize setzen. Mit meinen Mitschwestern und Mitbrüdern, die Ende Dezember ebenfalls zu Leiterinnen und Leiter ernannt wurden, machen wir uns auf den Weg.

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Ingrid Nolte

Bereicherung – nicht Notform

Als ich gefragt wurde, ob ich bereit wäre Wort-Gottes-Feiern (WGF) zu übernehmen, hatte sich diese Form des sonntäglichen Gottesdienstes in St. Ägidius schon etabliert. Ich hatte die WGF‘s als Bereicherung empfunden, nicht als Notform. Zum einen, weil in ihnen dem Wort ausdrücklich Raum gegeben wird, so können sich Eucharistiefeier und WGF ergänzen. Zum anderen, weil Laien sich mit ihren Erfahrungen und mit ihrem Glauben einbringen können, das Priestertum aller Gläubigen wird hier erfahrbar. Nicht nur ein Priester gestaltet das Leben einer Gemeinde, es geht um die Mitarbeit und Mitgestaltung vieler, denn : „Ihr aber seid der Leib Christi und jeder einzelne ist ein Glied an ihm“ (1Kor12,27). Über die vorgesehene Liturgie der WGF hinaus sind auch noch weitere Formen der Einbeziehung der Gemeinde möglich, es ist schön, dass die Liturgie dafür Spielraum bietet. In unserer Gemeinde wird die WGF normalerweise von zwei Leiter*innen gehalten, das erleichtert den Mitfeiernden die Aufmerksamkeit und ermöglicht auch für die Predigt unterschiedliche Formen. Nach der WGF gibt es bei einem Kirchenkaffee Gelegenheit zu Gesprächen, auch über die Feier und über die Predigt.

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Wie werde ich WGF-Leiter?

Niemand wird als Leiter von Wort-Gottes-Feiern (WGF) geboren, aber jeder und jede kann es lernen. Wie das geht, hat Diözese Rottenburg-Stuttgart in einem Leitfaden kurz und übersichtlich zusammengestellt. Der Leitfaden beschreibt dabei nicht nur, wie man WGF-Leiter wird, sondern beispielsweise auch die Ausbildung zum Lektor oder Kommunionhelfer. Außerdem enthält der Leitfaden Infos für Christen, die Chöre leiten, als Kantor oder Mesner arbeiten wollen.

WGF-Leiter sollten in der Regel mindestens 25 Jahre alt sein. Und bevor Sie sonntags Gemeindegottesdienste leiten, werden Sie bei einem zweiteiligen Kurs, der jeweils ein oder eineinhalb Tage dauert, auf ihre Aufgabe vorbereitet. Zur Anmeldung für einen Ausbildungskurs wird ein Votum des Pfarrers im Einvernehmen mit dem zuständigen Kirchengemeinderat benötigt. Vorteil dabei: die angehenden WGF-Leiter erfahren sogleich, wann und wo die nächsten Kurse stattfinden. Beim Kurs selbst erhalten sie eine grundlegende Einführung in Gottesdienst und Liturgie, beschäftigen sich mit der Bedeutung des Wortes Gottes und seiner Verkündigung, lernen die Elemente einer Wort-Gottes-Feier kennen und machen praktische Übungen im Kirchenraum.

Nach den Ausbildungskursen bietet das Institut für Fort und Weiterbildung der Diözese regelmäßig Fortbildungen für WGF-Leiter an. Dabei vertiefen die Teilnehmer ihre liturgischen Kenntnisse und ihr liturgisches Gespür, erhalten Anregungen zu bestimmten Aspekten der WGF-Leitung und können sich mit anderen WGF-Leitern austauschen.

Diakon Berhane Ibrahim

Armut und wie sie mir begegnet.

Mein Name ist Berhane Ibrahim, ich bin 76 Jahre alt, seit 49 Jahren  verheiratet und habe fünf erwachsene Kinder hier in Deutschland. Geboren wurde ich in Eritrea, habe dort das Priesterseminar besucht, als Buchhalter gearbeitet und bin während des Krieges mit Äthiopien aus politischen Gründen im Gefängnis gewesen. Als politischer Flüchtling kam ich 1985 nach Deutschland. Während meiner Tätigkeit in einer Fabrik habe ich 13 Jahre lang ehrenamtlich in der katholisch – eritreischen Gemeinde in Tübingen als Katechet gearbeitet. Seit dem Jahr 2000 habe ich als Mesner und Hausmeister in St. Michael gearbeitet. 2010 wurde ich zum Diakon geweiht.
Sowohl in Eritrea als auch hier in Deutschland begegne ich Armut: Da ich gut eritreisch und äthiopisch spreche, kümmere ich mich seit Jahrzehnten mit Geldspenden um hilfsbedürftige Personen (z.B. ältere Menschen, Waisenkinder) aus meiner Heimat. In Deutschland liegt mir gerade jetzt eine 40-jährige Patientin aus Eritrea am Herzen, die wegen eines Tumors im Rückenmarkskanal im Rollstuhl sitzt. Die Operation, die bereits zu einer Besserung der Lähmung der Beine geführt hat, konnten wir mit Spendengeldern finanzieren. Jetzt ist noch eine Bestrahlung erforderlich, die etwa 7.000 Euro kosten wird. Dafür suchen wir noch Spender: Katholische Gesamtkirchenpflege, Stichwort „Bestrahlung“ IBAN: DE 06 6415 0020 0000 0167 19. Herzlichen Dank und Gottes Segen.

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Diakon Bernward Hecke

Die göttliche Würde eines Menschen

Wenn ich meine Augen und mein Herz aufmachen kann, dann gibt es unzählig viele Begegnungen mit arm gemachten Menschen in Tübingen. Zum Beispiel L. – er kam aus Gambia als Asylbewerber nach Deutschland. Vom Staat bekam er ein Bett in einem Mehrbettzimmer zur Verfügung gestellt und konnte ein Gemeinschaftsbad und eine Gemeinschaftsküche benutzen. Wenn er Schmerzen hatte oder einen Unfall, konnte er auf Kosten des Staates zum Arzt gehen. Das nennt sich „Basisversorgung“. Zudem bekam er noch 320 Euro pro Monat auf sein Konto überwiesen, wovon er seinen ganzen Lebensunterhalt bestreiten musste: Essen, Fahrkarten, Handy-Vertrag, Kleidung, Drogerieartikel, Lehrbücher für den Sprachkurs, mal einen Döner kaufen oder ein Eis usw. L. hat eine alte Mutter und eine Tochter in Gambia, für die er sorgen will und muss. Die Mutter braucht Medikamente, die Tochter braucht Schulgeld und Schuluniform. Manchmal gibt es ein Familienfest, z.B. wenn ein Kind in der Verwandtschaft geboren wurde. Dann sollte man sich finanziell beteiligen an den Kosten, wenn man irgendwie dazugehören will. L. war oft Mitte des Monats pleite. 100 Euro oder manchmal sogar noch mehr schickte er monatlich nach Gambia. Er hatte kein Geld mehr, nicht einmal mehr was zu essen. „Dann hungere ich eben“, sagte er. Die Sorge um die Angehörigen hatte für ihn Vorrang. Solange er mit einem Arbeitsverbot belegt war, hatte er keine Wahl. Inzwischen ist er zum Glück raus aus dieser unwürdigen Situation, absolviert eine Ausbildung und wird sehr wahrscheinlich ab Herbst 2024 dem deutschen Arbeitsmarkt als einer der händeringend gesuchten Facharbeiter zur Verfügung stehen. Wenn es nach dem Willen des aktuellen deutschen politischen Meinungsmainstreams geht, dann wird ein Mensch wie L. in den wichtigen ersten drei Jahren nach seiner Flucht bald nicht mehr die Möglichkeit haben, sich finanziell um seine Tochter und seine Mutter zu kümmern: Kein Bargeld mehr – nur noch eine Bezahlkarte. Wenn es nach dem Willen des aktuellen deutschen politischen Meinungsmainstreams geht, dann sollen Entscheidungen über Asylanträge auch nicht mehr in Europa, sondern im außereuropäischen Ausland getroffen werden:  Globale Armut – aus den Augen, aus dem Sinn?

Szenenwechsel: Zusammen mit Frau Golec vom Pastoralrat der Polnischen Katholischen Gemeinde Stuttgart / Tübingen treffe ich mich mit fünf polnischen Frauen, die zum Teil seit Jahrzehnten als Betreuungskräfte in deutschen Haushalten arbeiten. Sie haben in den Haushalten sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht – positive und negative. Das Schlimmste ist für sie, wenn sie keine ehrlich gemeinte Anerkennung für ihre schwere Arbeit fern von der Heimat bekommen. Nach dem Motto „Zum Po abputzen bin ich gut genug, aber ansonsten werde ich von den Angehörigen nicht ernstgenommen“. Einige rechnen mir auch vor, wie viel höher ihre Rentenansprüche wären, wenn sie in den ersten Jahren ihrer Arbeit als Betreuungskraft nicht nur schwarz angestellt gewesen wären. Wenn die göttliche Würde von Menschen missachtet wird, dann werden sie arm gemacht.
Die göttliche Würde eines Menschen ist aber nicht abhängig sein von seiner Herkunft oder seiner Staatsangehörigkeit.

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Diakon Christian Handschuh

Armut als Sehnsucht und Suche

Armut ist ein schillernder Begriff, der für mich als Diakon viele Bedeutungen hat und mir in meinem Alltag immer wieder begegnet. Menschen in meiner Umgebung erfahren Armut, wenn sie sich in einer Krise befinden. Diese Armut kann existentiell, lebensbedrohend, einschneidend für die eigene Wahrnehmung der Welt und der Mitmenschen sein.

Häufig ist es in meinem Alltag aber nicht absolute Armut, die mir begegnet, das heißt eine Situation, in der ein Mitmensch die Befriedigung seiner wirtschaftlichen und sozialen Grundbedürfnisse nicht leisten kann. Es ist eher eine Form von relativer Armut, die in einem Grundgefühl einer dauernden Krise besteht: Menschen in meiner Umgebung wissen nicht mehr, woran sie sind, viele bisherige Sicherheiten sind in Frage gestellt. Zweifel, Unsicherheit, Rückfragen, Interesse und Neugier, gepaart mit teils massiv geäußerter Kritik, Vorurteilen und „harten“ Weltanschauungen prallen im Alltag auf mich ein, sobald ich als Diakon unterwegs bin. Da ich als nebenberuflicher Diakon sowohl in der Familie als auch in meiner beruflichen Welt und im Gemeindealltag tätig bin, ergibt das eine Vielzahl von völlig unterschiedlichen Situationen, in denen mir diese Form relativer Armut begegnet. Unterwegs mit meinen Kindern beim Einkaufen, die mich nach ihrer eigenen Zukunft fragen und mir Vorwürfe über den Zustand der (Um)Welt machen; im Beruf, wo mir bei einem Vortrag die strukturelle Ungerechtigkeit von Kirche und das (empfundene) Fehlverhalten von Funktionsträgern vorgeworfen werden; in der Gemeinde, wo mir bei einer Erstkommunionkatechese immer wieder spannende Rückfragen zu Bibel, Sakramenten und ethisch richtigem Verhalten begegnen.

Es ist vor allem die Sehnsucht nach Sicherheit und die Suche nach innerer Ruhe, das mir da begegnet. Vorgeprägte, feste oder gar „katholische“ Antworten habe ich darauf nicht mehr. Hier hilft nur noch diakonisches Handeln: Ich versuche, die Krisen meiner Umgebung ernst zu nehmen und auf diese Fragen zu antworten – so gut es geht und so gut ich es kann.

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Diakon Édison Fañanás-Lanau

Ohne Sprache, arm

In meiner Tätigkeit als Diakon im Zivilberuf ist die Ausbildung und die Begleitung von jungen Menschen, die im Ausland oder in Tübingen ein freiwilliges Jahr absolvieren, ein Schwerpunkt. Im Rahmen des Programms weltwärts und mit einer sehr guten Kooperation zwischen dem Verein evivo e.V., der Gemeinde St. Michael, dem Kinderhaus Carlo Steeb, dem Kinderhaus Helene von Hügel, der Sprachschule Vivat Lingua! und anderen Mitstreitern (Gastfamilien, Mentoren, Gemeinde- und Vereinsmitgliedern, ehemalige Freiwilligen, Freunde) entsteht eine schöne Vernetzung und eine warme Gemeinschaft, die uns alle wachsen lässt.

Wenn unsere drei ausländischen Freiwilligen in Tübingen ankommen, verbringen sie die ersten sechs Wochen mit einem intensiven Deutschkurs. Danach bilden sie sich mit weiteren Deutschkursen fort, jedoch mit weniger Intensität, denn die Kinderhauskinder sind dann ihre besten Lehrer. Die Erfahrungen, die die Freiwilligen jedes Mal machen, sind einzigartig. Sie erinnern mich an meine Anfangszeit in Deutschland: Die deutsche Sprache ist nicht einfach, aber trotzdem gibt es Schritte, gibt es Aha-Erlebnisse, gibt es Highlights:
„Ich habe die Kinder verstanden!“, „meine Gastmutter hat mein Deutsch verstanden!“, „jetzt verstehe ich!“. Und natürlich, eine neue Sprache ist viel mehr als ihre Grammatik.
Sie ist wie eine neue Welt, die sich dahinter versteckt und entdeckt werden will!

Eine gelungene Integration in einer fremden Kultur, in einer fremden Gesellschaft, setzt viele Faktoren voraus, aber die Sprache ist immer da. Unsere globalisierte Welt und die digitalen Medien ermöglichen viele neue Wege um eine Sprache zu lernen, aber ohne persönliche Begegnungen mit Einheimischen, ohne einen konkreten Alltag in der neuen Welt wird die neue Sprache arm. Eine Sprache, egal ob Mutter- oder Fremdsprache, ist nie vollständig erlernt, sie ist immer lebendig und entwicklungsbedürftig. Das ist einfach faszinierend. Und je mehr ich in die Tiefe einer Sprache gehe, desto mehr kann ich wahrnehmen, verstehen und vermitteln. Der Mensch, als Beziehungswesen, ist auf die Sprache angewiesen; der Mensch ist ein Sprachwesen. Ohne Sprache bin ich arm. In meinem hauptamtlichen Beruf unterrichte ich Spanisch und katholische Religionslehre in einem beruflichen Gymnasium. Ich mag diese zwei Fächer sehr. Letztendlich sind sie zwei verschiedene Sprachen Übrigens: Vor kurzem hat mir eine Mutter bei der Taufvorbereitung ihrer Tochter gesagt, dass für sie die Taufe die Einführung in die Sprache des Glaubens ist. Ich finde das ein sehr passendes Bild. Jede Sprache brauchen wir in allen unseren
Lebensbereichen. Auch die Sprache des Glaubens. Ohne Sprache bin ich arm.

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Diakon Joachim Wesedonk

allein gelassen, vergessen, einsam – arm

Schon in meiner Zeit als Mesner in der Gemeinde St.Michael hatte ich sehr oft Kontakt zu armen Menschen. Da war zum Beispiel der Bettler, der vor den meisten Messen vor der Kirchentür die Menschen abgepasst hat, oder der einsame Gottesdienstbesucher der froh darüber war, wenn man ihn einfach wahrnahm und ihm einen schönen Abend wünschte. Seit ich nun als Diakon für die Gemeinde tätig sein darf, sehe ich die Armut der Menschen aus einem ganz anderen Blickwinkel. Seit einiger Zeit darf ich die Menschen im Altenheim
besuchen und da ab und zu auch mit ihnen eine Wortgottesfeier feiern. In den vielen Gesprächen mit den Senioren stellt sich immer wieder heraus, dass sie sich zwar versorgt wissen, aber dennoch sehr einsam sind. Es gibt Bewohner im sogenannten betreuten Wohnen, die in einer schönen kleinen Wohnung leben, die sich aber trotzdem weit ab von jeglicher Gemeinschaft fühlen. Da fallen zum Beispiel Sätze wie „Ich würde mein ganzes Gespartes geben, wenn mich mal wieder mein Sohn oder meine Tochter besuchen würden.“ Diese Menschen fühlen sich allein gelassen, vergessen und einsam, sie fühlen sich arm. Viele von ihnen fühlen sich sogar schuldig. Ich habe noch gut in Erinnerung, was wir alles in der schweren Zeit der Corona-Krise auf die Beine gestellt haben. Da gab es Konzerte vor den Altenheimen und jedmögliche Art von Zuwendungen. Da sind Menschen zusammengerückt und haben einander gehalten. Da gab es ein Gefühl davon, dass niemand allein gelassen wird. Da gab es Hoffnung und Dankbarkeit. Ich würde mir wünschen, wenn wir unsere kranken und alten Mitmenschen auch in den sogenannten guten Zeiten nicht aus den Augen verlieren und sie näher in unsere Mitte holen. Manchmal langt schon ein kurzer Anruf oder eine Postkarte.
Es gibt so viel Menschen, die sich von unserem Staat in finanzieller Art benachteiligt fühlen, die arm sind. Aber es gibt eben auch die Menschen, die sich mindestens genauso arm fühlen, weil sie innerlich vereinsamen. Ich muss immer an die Aussage Jesu denken „Was ihr einem meiner geringsten getan habt, das habt ihr mir getan“. Und das gilt für alle Taten, die wir tun.

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Diakon Ludwig Leins

„Was ist Armut?“

Aus meiner Erfahrung in meiner Arbeit als Diakon und Bäcker möchte ich hier gerne zwei Dimensionen von Armut beschreiben. Die eine Art Armut ist der Mangel an Nahrung, Wohnung und wirtschaftlicher Sicherheit. Kollegen in der Bäckerei aus Gambia, Albanien, Afghanistan, Indien oder Algerien sind als Flüchtlinge oder abgewanderte Fachkräfte von dieser Variante der Armut betroffen. Manche versorgen mit dem Einkommen aus Deutschland ebenso noch ihre Familie in ihren Heimatländern. Diese Art der Armut hat eine geopolitische Dimension. Eine seelische, psychische Dimension nehme ich wahr bei meinen Besuchen im Pflegeheim oder Menschen, die alleine ohne soziale Kontakte leben. Besonders bedrückend erlebe ich diese Art der „Isolierung“ bei Menschen, die oft Jahrzehnte ihres Lebens in einer anderen Stadt/Region gelebt haben. Am letzten Stück ihres Weges ziehen sie um ins Pflegeheim und lassen ganz viele soziale Kontakte zurück in ihrer Heimat. Ruth Pfau, die Jahrzehnte in Pakistan mit Leprakranken als Ärztin gearbeitet hat, fragt sich nach in ihrem Leben „Was ist Armut?“ und ihre Antwort darauf: „Die materielle Not zu beheben, die Menschen daran hindert, ihr Leben in Gesundheit und Sicherheit zu meistern, ist uns vom Evangelium aufgetragen.“ Zu lernen, im Alter Vieles loszulassen und Menschen dabei zu begleiten, sehe ich als große Chance. Unser eigenes Leben kann so auf ungeahnte Weise bereichert werden. Menschen, die sich besuchen, begeben sich, ohne, dass sie dies planen, in eine win-win-Situation. Unsere Gemeinde bietet viele Möglichkeiten, sich zu besuchen und einzubringen – ganz im Sinne von Vinzenz von Paul, der einmal sagte: „Liebe sei Tat!“ Dies ist nach meiner Erfahrung auf vielen Ebenen ein bewährtes Rezept gegen Armut.

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Diakon Stefan Heymann

Die andere Seite des Fensters

Ich wohne mitten auf Waldhäuser-Ost. Wenn ich auf meinem Balkon stehe, sehe ich hunderte von Fenstern in den Häusern um mich herum. Und ich frage mich dabei oft, hinter wie vielen dieser Fenster sich gerade Armut, Einsamkeit, Krankheit und Leid abspielen. Jeder, der zum Diakon geweiht wird, verpflichtet sich der Kirche gegenüber u.a., „den Armen und Kranken beizustehen und den Heimatlosen und Notleidenden zu helfen“ (die Priester geben bei ihrer Weihe dasselbe Versprechen wortgleich noch einmal ab, die Bischöfe werden als „Vater der Armen“ bezeichnet). Dieser Dienst an den „Armen“ – das Wort kann als Oberbegriff für all die genannten Dinge verwendet werden – leitet sich direkt aus dem ab, wie Jesus mit den Menschen umgegangen ist. Er sagt über sich selbst, dass er nicht gekommen ist, um sich bedienen zu lassen, sondern um zu dienen (Diakonos, Mt 20,28/Mk 10,45). Und er wendet sich mit bedingungsloser Liebe den Menschen zu, denen er begegnet. Wir alle sind aufgefordert, uns in dieser Hinsicht ein Vorbild an Jesus zu nehmen, am Christos Diakonos. Das ist gewissermaßen der „gemeinsame Diakonat aller Getauften“. Zu meinem Dienst als Diakon gehört dieser Dienst an den „Armen“ zentral dazu. Es gehört auch dazu, dass die „Armen“ vielfach einen hohen (auch finanziellen) Aufwand auf sich nehmen, um eben nicht als arm erkennbar zu sein. Die Armut spielt sich hinter den Fenstern ab. Das macht es mir in meinem Wirkungsraum WHO, Winkelwiese und Wanne schwer(er), der Armut konkret und ohne besonderen Anlass zu begegnen. Von den „Armen“ kommt praktisch keiner direkt auf uns zu. Nur die wenigsten möchten sich und anderen gegenüber zugeben, dass sie unterstützungsbedürftig sind. Wir sind darauf angewiesen, Tipps zu bekommen. Zum Beispiel von Menschen, die Armut in ihrer direkten Umgebung wahrnehmen. Ein häufiger Ausdruck von Armut ist Einsamkeit. Sie kann durch materielle Armut entstehen – in den meisten Fällen aber dadurch, dass bei Menschen im Ruhestand der Partner oder die Partnerin verstorben ist. Wir haben in St. Paulus einen Besuchskreis, mit dem wir versuchen, denen zu begegnen, die einsam sind. Und zwar nicht nur im Advent und vor Ostern, sondern das ganze Jahr über; und auch nicht nur für Senioren – es gibt auch 40-jährige, die krank und einsam sind. Das ist für mich eine zentrale Aufgabe unserer Gemeinde. Über die Zeit der Pandemie konnte der Besuchskreis keine Besuche machen, und so sind wir derzeit dabei, diesen wieder zusammenzubringen und aufzubauen. Der Besuchsdienst und auch die Hauskommunionen geben uns die Möglichkeit, einen sinnvollen Dienst zu tun. Dort dürfen wir dann auch mal die Seite wechseln – auf die andere Seite eines dieser vielen Fenster.

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